- organisierte Kriminalität: Faktor der Weltwirtschaft
- organisierte Kriminalität: Faktor der WeltwirtschaftRauschgiftangebot und -nachfrage haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatisch zugenommen. Nach vorsichtigen Schätzungen lag der weltweite Umsatz, den die organisierte Kriminalität mit illegalen Drogen erzielte, in vier Jahrzehnten — vom Ende der Vierziger- bis zum Ende der Achtzigerjahre — bei vier bis fünf Billionen US-Dollar. Erste Schätzungen der globalen Jahresumsätze gab es mit 300 Milliarden Dollar 1986. Anfang der Neunzigerjahre lag die Schätzung bei 500 Milliarden Dollar. Mitte der Neunzigerjahre fand sich in einigen Quellen die Schätzung von 800 Milliarden Dollar, also von rund einer Billion DM; das entspricht in etwa einem Umsatz von über 1,5 Millionen Dollar pro Minute. Die daraus erwachsenen Gewinne bezifferte Hans-Ludwig Zachert, Präsident des Bundeskriminalamtes, 1993 auf weltweit jährlich 500 Milliarden Dollar. Weit niedriger lag die Schätzung der UNO-Kommission United Nations Drugs Control Program (UNDCP), die anlässlich des Weltdrogentages der Vereinten Nationen im Juni 1997 öffentlich bekannt wurde: 400 Milliarden Dollar. Dieser Welt-Drogen-Report verdient hohe Aufmerksamkeit, zog mit ihm doch das UNO-Drogenkontrollprogramm erstmals in seiner Geschichte schriftlich Bilanz. Nach diesem Bericht greifen zwischen 3,3 und 4,1 Prozent der Weltbevölkerung — das entspricht etwa 240 Millionen Menschen — zu illegalen Drogen, vornehmlich zu Cannabisprodukten wie Marihuana und Haschisch. Der Rauschgifthandel, so der Direktor der Kommission, Francesco Bastagli, mache bereits rund 8 Prozent des gesamten Welthandels aus.Die Entstehung der großen Verbrecherorganisationen in den USA und ChinaEin Zeitraum von nur 14 Jahren veränderte die USA nachhaltig. Von Januar 1920 bis Dezember 1933 war in Amerika der Alkohol per Gesetz (Volstead Act) verboten. Die Prohibition führte jedoch nicht zur Einschränkung des Konsums, sondern verlagerte ihn nur in den Untergrund. Es etablierte sich eine Art Schleichhandel, der in kurzer Zeit eine Verbrechergeneration zu Millionären machte. In New York zum Beispiel stieg der Casinokönig Arnold Rothstein in das Alkoholgeschäft ein. Er fuhr nach Europa und kaufte in Schottland Whiskey, charterte Schiffe samt Besatzung und verdiente so auch am Transport. In der Alten Welt kostete eine Kiste mit zwölf Flaschen 25 Dollar. In New York kostete eine Flasche in einer illegalen Bar — es gab 23000 solcher »Flüsterkneipen« in der Stadt — rund 30 Dollar. Ähnlich war die Situation in Chicago. Dort erzielte der Bordellkönig Al Capone mit seinem Alkohol-, Glücksspiel- und Rotlichtimperium Jahresumsätze von 60 Millionen Dollar und mehr. Legt man gar die lebenslange kriminelle Laufbahn Capones zugrunde, soll der Gesamtumsatz rund eine Milliarde Dollar betragen haben, mehrheitlich über Alkohol- und Begleitgeschäfte erwirtschaftet. Die Verbrecher lernten, dass das Verbot der Droge Alkohol ein Maximum an Profit sicherte. In den Zwanzigerjahren kam es zu blutigen Verteilungskämpfen, in Chicago regelrecht zum offenen Krieg. Dieser forderte 1926 allein zwischen irisch- und italienischstämmigen Alkoholgangstern 64 Tote. Höhepunkt dieser Eskalation der Gewalt war das Massaker am Valentinstag 1929, als der Gangsterboss Al Capone sieben Mitglieder einer konkurrierenden Gang hinrichten ließ.Schon Ende der Zwanzigerjahre wurde den Berufsverbrechern aber klar, dass Kooperation statt Konfrontation dem lukrativen Geschäft zuträglicher war. So arbeiteten jüdische Mafiosi der Kosher Nostra, geführt von Meyer Lansky, und italienische Mafiosi der Cosa Nostra, geführt von Charles »Lucky« Luciano, in den letzten Jahren der Prohibitionszeit zusammen. Ein Jahr nach der Aufhebung des Alkoholverbots gründeten sie ein landesweit organisiertes Kriminalitätskartell, das als das »Syndikat« bekannt wurde. Dieses National Crime Syndicate schuf sich einen separaten Vollstreckungsarm, der als Murder Incorporated Verbrechensgeschichte schrieb. Während der zehn bis fünfzehn Jahre ihres Bestehens fielen ihren Killern 400 bis 500 Menschen zum Opfer. Zu den Mördern gehörte auch Benjamin »Bugsy« Siegel, der vom Syndikat an die amerikanische Westküste geschickt wurde, um von Kalifornien aus dessen Glücksspielinteressen zu vertreten. Siegel machte sich nicht nur um den Standort Las Vegas in Nevada »verdient«, sondern baute auch gegen Ende der Dreißigerjahre einen lukrativen Handel mit Opiaten aus Mexiko auf. Der Rauschgifthandel war innerhalb des Syndikats umstritten. Während Verbrecherführer wie Lansky dieses Geschäft ablehnten, traten Paten wie Luciano dafür ein.Weltweiter DrogenhandelIn den USA war die Heroinerzeugung schon 1924 verboten worden, 1931 wurde die Produktion und Verbreitung von Heroin strikt auf medizinische Notwendigkeit limitiert. Damit war die Droge dem freien Markt entzogen und wurde zur illegalen Ware. Mit dem Ende des Alkoholverbots 1933 bot sich der Heroinhandel als lukratives Anschlussgeschäft regelrecht an, zumal die organisierten Verbrecher alle Erfahrungen der Alkoholverbotszeit nun für die Zeit des Heroinverbots nutzen konnten. Für die USA wurden 1932 um die 250000 Heroinabhängige geschätzt. Sie zu versorgen, übernahm die French Connection, benannt nach den korsischen Dealern, die Heroin, das aus dem aus türkischem Schlafmohn gewonnenen Opium hergestellt wurde, an Mitglieder des Syndikats in New York verkauften. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs fand dieser, von der kriminellen Union corse organisierte Heroinhandel ein vorläufiges Ende. Ein neuer Anfang des Drogengeschäftes bot sich dem korsischen Milieu in den Vierzigerjahren in Südostasien. Zwanzig Jahre zuvor hatten sich in Ostasien bereits Banden chinesischer Krimineller den Opiumhandel gesichert.In den Zwanzigerjahren war Schanghai in Fernost das Pendant zur amerikanischen Verbrechensmetropole Chicago. Der »chinesische Al Capone« hieß Tu Yuesheng. Mit seiner Grünen Bande, die zwischen 20000 und 100000 Mitglieder gehabt haben soll, residierte der ungekrönte König von Schanghai in der damaligen französischen Konzessionszone der Stadt. Die verbrecherische Geheimgesellschaft (Triade) von Großohr-Tu — so der Spitzname des Bandenführers — war im Sklavenhandel, in Entführung, Erpressung, Glücksspiel, Waffenschieberei, Erzwingung von Schutzgeldern und nicht zuletzt im Opiumhandel aktiv. In dieser Zeit war Schanghai — China wurde vom Bürgerkrieg geschüttelt — auch Hochburg der linken Gewerkschaften, die dem Führer der Nationalen Volkspartei, der Kuo-min-tang, General Chiang Kai-shek, ein Dorn im Auge waren. So paktierte dieser mit Tu, dessen Gangster die »linken Zufluchtsstätten« drangsalierten. Diese Terrorherrschaft der Grünen Bande gipfelte in einem Massaker unter kommunistischen Gewerkschaftern im April 1927. Im Gegenzug erhielt Tu freie Hand in den Teilen Chinas, die von der Nationalarmee Chiang Kai-sheks kontrolliert wurden, und stieg rasch zum »Opiumkönig« auf. Mithilfe der Kuo-min-tang wurde China das erste Land der Neuzeit, in dem kriminelle Gesellschaften eine führende Rolle in der Regierung spielen konnten.Mit dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong 1949 flohen die Triaden, die der geschlagenen Kuo-min-tang freundlich gesonnen waren, etwa die Grüne Bande aus Schanghai und die 14 K aus Kanton, in die britische Kronkolonie Hongkong. Als Festlandstriaden brachten sie auch ihren Heroinhandel mit. Dieser kriminelle Geschäftszweig etablierte sich hier nach einem blutigen Triadenkrieg, den die Festlandstriaden gegen die etablierten Hongkongtriaden 1953 führten. Kriegsgewinnler wie die Triaden Sun Yee On, Wo-Gruppe und 14 K gewannen Kontakt und Einfluss in den Schlafmohnanbaugebieten des Goldenen Dreiecks im Grenzgebiet von Birma, Laos und Thailand. Neben den Chinesen hatten hier bereits andere Völker die Lukrativität des Opiumhandels entdeckt.Zusammenarbeit von Geheimdiensten und VerbrecherorganisationenNach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Frankreich, seine Herrschaft über die Länder Indochinas wieder zu errichten. Dadurch entzündete sich ein Konflikt mit der kommunistisch geführten Demokratischen Republik Vietnam, der zum Indochinakrieg (1945/46—54) führte. Um ihn besser finanzieren zu können, wurde die »Operation X« ins Leben gerufen. Hinter ihr verbargen sich Bemühungen des französischen Geheimdienstes SDECE, ein ausgeklügeltes Vertriebssystem für den profitablen Opiumhandel aufzubauen. Die SDECE-Agenten arbeiteten dabei mit einer der mächtigsten Sekten des Landes zusammen, die als »Flusspiraten von Saigon River« gefürchtet waren — den in Südvietnam operierenden Binh Xuyen. Zunächst setzten die Franzosen Sektenmitglieder als Polizisten in Saigon ein, dann übertrugen sie ihnen 1950 die Kontrolle über alle Spielhallen, Bordelle und Opiumhöhlen. Die ungeheuren Gewinne teilten sich die Sekte und der Geheimdienst.Nach der Niederlage der Franzosen im Indochinakrieg 1954 und der faktischen Teilung Vietnams wurde der von Ngo Dinh Diem diktatorisch geführte Süden Schutzgebiet der USA. Dem amerikanischen Geheimdienst CIA gefiel weder der noch vorhandene Einfluss der französischen Kollegen noch deren gewinnträchtige Zusammenarbeit mit den Binh Xuyen. Der Forderung der CIA, der französische Geheimdienst solle sich aus dem Unterweltgeschäft zurückziehen und selbiges den Amerikanern überlassen, kam der SDECE nicht nach. So entbrannte 1955 ein regelrechter Krieg der Geheimdienste. Die offene Feldschlacht am Run-Sat-Sumpf kostete 500 Kämpfern das Leben: Das aus Flusspiraten und korsischen Söldnern bestehende französische Bataillon verlor gegen die vietnamesischen Soldaten der CIA. Jahre zuvor hatten, entsprechend dem SDECE, auch in Saigon ansässige Paten der »korsischen Allianz« mit den Generälen der militanten vietnamesischen Sekten zusammengearbeitet. So wurde das aus Nordvietnam stammende Opium in den Klöstern der Binh Xuyen gelagert, zu Morphinbase aufbereitet und dann an die Korsen nach Übersee verkauft. Die Seigneurs verstanden es, mittels Korruption die staatlichen Zölle zu umgehen und die Morphinbase auf eigenen Schiffen ungehindert von Saigon nach Marseille einzuschmuggeln.Mit dem Übergang zum vor allem von den USA getragenen Vietnamkrieg (1957—75) begann der Einfluss des korsischen »Milieus« zu schwinden. In die Drogen-Connection traten nun Mitglieder der amerikanischen Cosa Nostra. Sie waren die neuen Geschäftspartner der chinesischen Händler, die den amerikanischen Soldaten in Vietnam Heroin anboten. Zählt man die amerikanischen Heroinverbraucher in Vietnam dazu, registrierte man 1970 mit 560000 Abhängigen und zwei Millionen Probierern die meisten Heroinkonsumenten in der Geschichte der USA. Präsident Richard Nixon sah einen »nationalen Notstand« gegeben und erklärte 1971 den Drogenmissbrauch zum »Feind Nummer Eins«, gegen den ein Feldzug (war on drugs) geführt werden müsse. Um gegenüber den asiatischen Drogenhändlern gewappnet zu sein, wurde 1973 nach dem Ausscheiden der USA aus dem Vietnamkrieg die Rauschgiftabwehr DEA gegründet.Die Zusammenarbeit der sizilianischen und amerikanischen MafiaMit der Verlagerung von der Türkei in das vom Vietnamkrieg erschütterte Südostasien bezog die amerikanische Cosa Nost- ra ihre sizilianische Verwandtschaft auf breiter Ebene in das Heroingeschäft mit ein. Sizilien, zuvor nur Operationsbasis, wurde nun zum Partner. Bis 1979/80 dauerte diese Zusammenarbeit, die sich wegen der Profitabilität der Ware für die Geschäftspartner zu einem »goldenen Zeitalter« entwickelte. In diesem Jahrzehnt wuchs die Sicilian Connection, genauer einige der 186 Clans der Cosa Nostra auf der Insel, zu einem riesigen Konzern heran. Opium aus den mittelöstlichen Schlafmohnkulturen des Goldenen Halbmondes wurde in ungezählten Labors — auch auf Sizilien — zu Heroin raffiniert und war dann, oft schon 48 Stunden später, auf dem New Yorker Times Square am Markt. Die DEA vermutete seinerzeit, dass Anfang der Achtzigerjahre ein Drittel der 60 oder mehr Tonnen Heroin, die jährlich in den Welthandel gingen und umgerechnet rund 39 Milliarden DM einbrachten, in Sizilien verpackt und von dort verschickt und verteilt wurden. Die »ehrenwerten« Dealer Siziliens kauften im Libanon ein Kilo Morphinbase für 1000 Dollar ein und verkauften dieses Kilo — zu Heroin veredelt — in Amerika für 22000 Dollar. Die dortigen Partner verschnitten die Ware und erzielten auf dem heimischen Schwarzmarkt schließlich einen Kiloendpreis von 225000 Dollar. Das Drogengeschäft entwickelte sich zum Milliardengeschäft und lag fest in den Händen von fünf New Yorker Mafiafamilien — den »Großen Fünf« — und deren Verwandtschaft im fernen Sizilien, von Neidern spöttisch als Pizza Connection bezeichnet.Anfang der Achtzigerjahre wurde es deutlicher denn je: Der internationale Drogenhandel erforderte eine weltweit perfekte Organisation, die nur ein ökonomisch kalkulierendes und skrupelloses Management gewährleisten konnte. In Westeuropa und Nordamerika setzte sich, diesen Überlegungen folgend, die nachgewachsene Mafiosigeneration gegen ihre Vätergeneration durch. Zusätzlich kam es zwischen einigen neuen und alten Clans zu blutigen Verteilungskämpfen. Diese gewalttätigen Auseinandersetzungen kennzeichneten die erste Hälfte der Achtzigerjahre, die zum Beispiel 1982 allein auf Sizilien 200 Menschenleben kosteten.Auch in den USA fand innerhalb der Cosa Nostra ein Generationenwechsel statt. Die jungen Mafiosi in Miami, Houston und Los Angeles »opferten« die alten, stärker mit Sizilien verbundenen Clans in New York. Zeitgleich mit den internen Machtkämpfen machte Mitte der Achtzigerjahre auch die Polizei Druck, indem sie verstärkt gegen die Paten ermittelte. 1984 setzte Präsident Ronald Reagan eine Kommission zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens ein, die damals die Einnahmen der amerikanischen Mafia auf jährlich fast 170 Milliarden Dollar schätzte. Rauschgiftgeschäfte waren daran mit angeblich rund 110 Milliarden beteiligt. Nach mehrjährigen polizeilichen Ermittlungen konnten — zum ersten Mal in der Justizgeschichte der USA — insgesamt 19 Führer der Cosa Nostra, darunter fast alle Bosse der New Yorker Großen Fünf, angeklagt werden. Der kriminalhistorisch bedeutsame Prozess begann am 30. September 1985 und fand Mitte 1987 sein Ende, als Haftstrafen von 15 bis 100 Jahren verhängt wurden. Danach war die Cosa Nostra, deren 24 Familienclans über ein halbes Jahrhundert in den USA unangefochten an der Spitze des organisierten Verbrechens gestanden hatten, spürbar entmachtet worden. Die Pizza Connection wurde nun von der Columbian Connection abgelöst, die über ihren Kokainhandel reich und mächtig geworden war.Der KokainhandelIn den Sechzigerjahren spielte Kokain, ein aus den Blättern des Kokastrauches gewonnenes Rauschmittel mit aufputschender Wirkung, mangels Nachfrage auf den Drogenschwarzmärkten noch keine Rolle. Anfang der Siebzigerjahre — die French Connection war zerschlagen, und die USA waren aus dem Vietnamkrieg ausgeschieden — änderte sich die Situation. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde mit dem in Südamerika hergestellten Kokain die größte illegale Drogenindustrie des 20. Jahrhunderts aufgebaut.Anfang der Siebzigerjahre begann diese Entwicklung in Chile. Ein Putsch des Militärs in Bolivien im Jahre 1980 ging in die Landesgeschichte als »Kokain-Putsch« ein. Der an die Macht gelangte General Luis García Meza erklärte den Handel mit Kokablättern zum Staatsmonopol und brachte es so — bis zum Ende seiner Ära 1982 — zu beachtlichem Reichtum. Die großen und wichtigsten Labors, in denen den Kokablättern aus Bolivien und Peru das Kokain entzogen wurde, befanden sich in Kolumbien. Dementsprechend schlossen sich hier in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre rund zwei Dutzend einflussreiche Händlerfamilien in den großen Städten des Landes zunächst ganz locker zu »Untergrundfirmen« zusammen. Als sich wenig später die Zusammenschlüsse strenger kontrollierten — das hoch profitable Kokaingeschäft machte einen hohen Organisationsstand erforderlich —, konkurrierten sie zunehmend miteinander, vornehmlich in den USA, aber auch auf anderen ausländischen Absatzmärkten.Als Columbian Connection ließen sich in den Achtzigerjahren mehrere kartellartige Zusammenschlüsse unterscheiden: Ein kleines Kartell bestand in der Landeshauptstadt Bogotá, und ein »Küstenkartell« hatte sich in Städten wie Cartagena und Barranquilla an der Karibikküste etabliert. In der Industriemetropole Medellín bildeten einige Familien einen Zusammenschluss namens comania (die Firma), der als Medellínkartell weltweit bekannt wurde; geführt wurde es von »El Padrino« (Der Pate) Pablo Escobar. In der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre entwickelte das Kartell zusammen mit der Konkurrenz die Kokainproduktion zu industriellen Ausmaßen. Im September 1989 — das Kartell hatte den Höhepunkt seiner Macht erreicht — schätzte die DEA, dass das Medellínkartell in seinen legalen und illegalen Unternehmen rund 100000 Menschen beschäftigte und durch den Aufbau weltweiter Geschäftsbeziehungen Kontakte zu über 24000 Unternehmen und Einzelpersonen unterhielt. Das amerikanische Magazin »Forbes« zählte Anfang Juli 1988 die Familien Escobar (über zwei Milliarden Dollar), Ochoa (über zwei Milliarden Dollar) und Gacha (1,3 bis drei Milliarden Dollar) zu den reichsten der Welt. Einzigartig in der Geschichte des organisierten Verbrechens, erklärten die von Ausweisung an die USA bedrohten Kokainmilliardäre im August 1989 dem Staat den Krieg. Die Magicos verfügten über 15000 Bewaffnete. Der Krieg der Narcoterristen gegen die Regierungstruppen forderte allein bis 1991 über 500 Menschenleben. Escobar wurde zum meistgesuchten Verbrecher der Welt. Die kolumbianische Staatsmacht erhöhte das Kopfgeld für die Ergreifung des Paten im Februar 1993 auf eine Milliarde Pesos (umgerechnet über 14 Millionen DM). Am 2. Dezember 1993 wurde Pablo Escobar während einer gemeinsamen Operation von Polizei und Streitkräften in Medellín erschossen. Zwei Tage später wurde er beigesetzt; 20000 Trauernde aus den Elendsvierteln der Millionenmetropole gaben ihm das letzte Geleit.Zwar hatte der Staat den Kampf gegen das Medellínkartell gewonnen, doch den größten Profit aus der Entmachtung der Kokainbarone zogen deren Konkurrenten in der Stadt Cali. Die dominierenden Familien des dortigen Kartells, Caballeros genannt, beschäftigten in ihren Unternehmen immerhin rund 80000 Menschen. Mit der »Auslöschung« des Konkurrenten in Medellín übernahm das Calikartell die Kontrolle über weltweite Kokaingeschäfte — von Nordamerika bis Westeuropa. Für 1996 wurden weltweit 13 Millionen Kokainabhängige geschätzt. Die illegale Produktion hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und liegt heute geschätzt bei über 1000t pro Jahr.In der Sowjetunion leitete Michail Gorbatschow, seit 1985 Generalsekretär des ZK der KPdSU, die Reformen der wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung (Perestroika) sowie die Abkehr von der restriktiven Informationspolitik (Glasnost) ein. Im Juli 1988 berichteten die Medien erstmals über die Existenz des organisierten Verbrechens in der UdSSR. Zwei Monate danach veröffentlichte die Regierungszeitung »Iswestija« erstmals eine Art Kriminalstatistik. Die Potenz der sich rasant entwickelnden organisierten Kriminalität wurde 1989 schon so hoch eingeschätzt, dass der Oberste Sowjet die Regierung beauftragte, »alle Kräfte für den Krieg mit dem Verbrechertum zu mobilisieren«. Im Februar 1991 versuchte Gorbatschow noch mit einem neuen Anti-Mafia-Dekret dem wachsenden Einfluss der kriminellen Gruppen entgegenzusteuern — ohne Erfolg. Als Russlands Präsident Boris Jelzin schließlich im Oktober 1993 den seit den Zwanzigerjahren verbotenen Privatbesitz an Grund und Boden wieder erlaubte, expandierte die Russenmafia. Als »Geschäftsleute« (Bisnesmeni) eroberten sie alle profitablen Wirtschaftssparten — angefangen von Schlüsselindustrien über diverse Dienstleistungen bis hin zu tatsächlichen Delikten.Der boomende Rauschgifthandel liegt in den Händen der Narkobisnesmeni. Die Anzahl der kriminellen Banden stieg allein in Russland zwischen 1991 und 1992 explosionsartig von 952 auf 4352. 1994 schätzte das Innenministerium Russlands die Anzahl bereits auf 5700 mit insgesamt 100000 Mitgliedern, 1996 gar auf 8000 Banden mit bis zu 200000 Mitgliedern. Die größten Gruppen sind die Bratstwa, die großen »Bruderschaften«, die bis zu 2000 Mitglieder haben sollen und deren Paten nicht selten Kontakte zur Regierung haben. In den Händen von rund 150 Paten soll der riesige Schwarzmarkt Russlands liegen. Nach Einschätzung der Regierung kontrolliert das organisierte Verbrechen 25000 staatliche und gewerbliche Betriebe: davon 1500 staatliche Unternehmen, 4400 Aktiengesellschaften, 9000 Kooperativen, 6700 Kleinbetriebe, 407 Banken, 47 Börsen und 697 Warenmärkte. Bei einer Anhörung eines Ausschusses des amerikanischen Repräsentantenhauses vertraten Ende April 1996 die Direktoren der CIA und des FBI die Ansicht, dass dieses Verbrechertum zunehmend die russische Regierung untergrabe, indem es (neben der Korruption) die politischen und wirtschaftlichen Reformen in Russland bedrohe. Im Herbst 1997 legte das Zentrum für strategische und internationale Studien noch nach und befand, dass Russland an der Schwelle zu einer »vom Verbrechen beherrschten Oligarchie« stehe.Längst sind diese Mafiagruppen auch im Ausland aktiv. Über 300 kriminelle Organisationen sind außerhalb Russlands tätig. Schon Mitte der Neunzigerjahre waren 4000 Personen namentlich bekannt, die feste Beziehungen zu kriminellen Organisationen unterhalten. So ist die Russenmafia besonders in den USA (Little Odessa in New York), Israel (die Georgische Mafia in Tel Aviv), aber auch in Deutschland, wo 47 russische Gruppen aktiv sind, vertreten. Nach vorsichtigen Schätzungen vom Dezember 1994 haben die Mafiagruppen aus der früheren Sowjetunion insgesamt mehr als 50 Milliarden Dollar bei Banken im Ausland deponiert. In ihrer Heimat durch Erpressung, Entführung, Prostitution und Glücksspiel reich geworden, suchen die Bisnesmeni weltweit nach lukrativen Anlagemöglichkeiten. Zur Wäsche ihrer schwarzen Gelder gründet die Russenmafia mittlerweile eigene Bankniederlassungen, zum Beispiel auf Karibikinseln. Russische Mafiosi haben, so Erkenntnisse der DEA, inzwischen feste Kontakte zu lateinamerikanischen, vor allem kolumbianischen Drogenkartellen geknüpft. Sie offerieren den Südamerikanern den Einstieg in neue Märkte in Osteuropa und bieten moderne Waffen (vom Kampfhubschrauber über Boden-Luft-Raketen bis hin zum U-Boot) zum Verkauf an.Dipl. Soz.päd. Berndt Georg ThammLallemand, Alain: Russische Mafia. Der Griff zur Macht. Das Netzwerk zwischen Moskau, Berlin und New York. Aus dem Französischen. München 1997.Nash, Jay Robert: World encyclopedia of organized crime. Neudruck New York 1993.Sterling, Claire: Die Mafia. Das organisierte Verbrechen bedroht die Welt. Aus dem Amerikanischen. Taschenbuchausgabe Bergisch Gladbach 1993.Thamm, Berndt Georg: Drachen bedrohen die Welt. Chinesische organisierte Kriminalität (Triaden). Hilden 1996.Thamm, Berndt Georg / Freiberg, Konrad: Mafia global. Organisiertes Verbrechen auf dem Sprung in das 21. Jahrhundert. Hilden 1998.Der Welt-Drogen-Bericht, herausgegeben von Observatoire géopolitique des drogues. Aus dem Französischen. München 1993.
Universal-Lexikon. 2012.